Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Artikel überhaupt schreiben soll. Er steckt voller Emotionen. Voller persönlicher Eindrücke. Voller Enttäuschung. Seit einer Woche kann ich nicht mehr gut schlafen. Seit einer Woche wache ich morgens auf und bin erfüllt mit tiefer Traurigkeit.
Es ist etwas geschehen und ich habe es nicht gesehen. Ich mache mir deswegen selbst die größten Vorwürfe. Als ob das nicht reichen würde, werden mir auch von außen Vorwürfe gemacht.
Warum hast du es nicht gesehen?!
Diese Frage stelle ich mir, diese Frage wird mir gestellt.
Vor einer Woche bekam ich einen Anruf von der Klassenlehrerin meines Sohnes. Es sei dringend. Pubertier macht in der Schule nicht mehr mit. Er bringt seine Hausaufgaben nicht. Er ist verschlossen und reagiert nicht mehr auf Vorschläge des Lehrpersonals. Kurz gesagt, er bringt keine Leistung mehr.
Im ersten Moment dachte ich, sie kann unmöglich mein Pubertier meinen. Ja, er ist gerade schwierig. Stimmt schon. Pubertier halt. Aber so völlig teilnahmslos? Das kann ja nicht sein. Ist er ja sonst auch nicht. Ganz ehrlich, ich war enttäuscht.
Also hieß es für mich mit dem Pubertier zu reden. Vernünftig und unvoreingenommen. Seine Sicht der Dinge hören und dann entscheiden, wie es weiter gehen soll. Doch es folgte etwas, mit dem habe ich nicht gerechnet. Man weiß, es kommt vor. Aber du bist völlig unvorbereitet und im Endeffekt hilflos dieser Situation ausgeliefert. Du weißt nicht genau, wie du reagieren sollst. Es trifft dich zu tiefst in deinem Herzen. Der Schmerz ist unvorstellbar groß. Du erstarrst.
Der Auslöser für den Leistungsabfall
Wenn dein Kind vor dir steht, bereits größer als du, ein junger Erwachsener, mit Tränen in den Augen und sagt:
„Mama, ich muss dir was gestehen. Ich trage das schon lange mit mir herum. Aber ich kann nicht mehr. Ich habe keine Lust mehr. Und ich habe Angst, dass du mir nicht glaubst, denn niemand glaubt mir. Aber ich werde von meinen Mitschülern aufs schlimmste gemobbt…“
Was er mir dann erzählte ist zu schlimm, um es hier wieder zu geben. Er musste sich beinahe drei Jahre lang Dinge anhören, die nicht nur gemein und verletzend sind. Es fielen Worte, die einen zerstören. Dinge, die das Leben nicht mehr lebenswert machen. Dinge, wo du anfängst zu Zweifeln, dass du ein Recht auf Existenz hast.
Als Mutter fühlst du dich elend und nutzlos. Du konntest dein Kind nicht davor schützen. Die Wunden, die entstanden sind, die kannst du nicht küssen. Du siehst dein völlig verzweifeltes Kind und was du siehst ist das kleine Kind, wie es bitterlich weint und schreit. Doch du kannst es nicht hochnehmen, die Wunde verarzten, ein Pflaster drauf kleben und sagen: „Nicht so schlimm. Es wird alles wieder gut. Morgen tut es nicht mehr weh.“ Es wäre nicht richtig, man würde lügen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es auch nach 20 Jahren noch unheimlich schmerzt. Bei allem, was du tust, hast du das Gefühl, es ist nicht gut genug. Die Stimmen der Vergangenheit hallen immer wieder durch deinen Kopf. Immer wieder hörst du, wie sie dich auslachen, wenn etwas nicht gelingt.
Doch du darfst als Mama dann nicht zusammen brechen. Nicht jetzt, nicht vor ihm. Du bist jetzt der Fels in der Brandung. Es ist eine emotionale Herausforderung.
„Mama, es tut mir leid. Ich dachte, ich pack‘ das alleine.“
Mein Kind hat ein schlechtes Gewissen. Er dachte, es sei seine Schuld. Sei fehl am Platz. Gehöre nicht hier her. Ihm wurde Leid angetan und er bittet dafür um Entschuldigung. Es ist schlimm. Es ist tragisch. Ich nehme ihn aus dieser Situation raus. Er darf die Schule wechseln. Ein Termin bei der Klassenlehrerin ist ausgemacht. Nicht mehr lange und es ist alles vorbei. Er schöpft neuen Mut und ist wieder so, wie immer. Ein netter, fröhlicher Mensch, der Spaß am Leben hat. Er macht seine Hausaufgaben und danach lernt er für die verschiedenen Fächer.
Nach dem Wochenende dann geschah etwas schlimmes. Auch auf das bist du nicht vorbereitet.
Von verbalen zu körperlichen Übergriffen
Mein Mann und ich entschlossen uns am Dienstag unser Pubertier von der Schule abzuholen. Da wir sowieso gerade in der Nähe der Schule einkaufen waren. Wir wollen ihn überraschen. In dem Moment, als wir bei der Schule ankommen, musste ich sehen, wie mein Kind von einem anderen Burschen zu Boden geworfen wird.
Mein „Baby“ liegt halb auf der Straße, halb am Bürgersteig. Noch bevor unser Auto still stand, sprang ich aus unserem Wagen und schrie den Burschen an. Ein zweiter ergriff die Flucht. Kurz überprüft, wie es meinem Sohn geht, der bereits wieder stand, als ich bei ihm ankam. Ich übergab ihn in die Obhut meines Mannes, nahm den Burschen, der ihm das antat und ging mit ihm sofort in die Direktion.
Da es Anfang der 6. Stunde war, war nur die Sekretärin der Direktion anwesend. Sie nahm alles auf und sagte mir dann, ich könne am nächsten Morgen wieder kommen und mit der Klassenlehrerin sprechen. Der Bursch, er geht in die selbe Klasse wie mein Pubertier, war mit den Nerven am Ende, denn er hat Angst vor den Konsequenzen. Er ging mit mir dann noch mit zum Auto und entschuldigte sich bei Philipp für alles. Nicht nur die Handgreiflichkeiten auch für das Mobbing.
An Mobbing ist immer das Opfer schuld
Am nächsten Tag sind wir dann, wie besprochen, in der Schule erschienen. Wir trafen die Lehrerin. Mein Pubertier kam auch gleich mit. Wir sprachen alles ab. Wie schlimm es meinem Sohn geht, dass er deswegen keine Leistung mehr brachte. Dass er die Schule wechseln wird. Zuerst wollte sie die Sache schön reden. Es wäre ja alles nicht so schlimm und Philipp würde sich das ja nur einreden beziehungsweise selbst schuld daran sein, denn er hätte ja früher etwas sagen können. Sie glaubte ihm ganz offensichtlich nicht. Doch dann holten wir den Burschen auch zum Gespräch. Und er gestand. Die Lehrerin meinte nach dem Gespräch, dass diese Sache nicht unter den Tisch gekehrt wird. Dass es Konsequenzen geben wird.
Mobbing bleibt ungestraft
Doch es gibt nicht wirklich welche. Die Sache wird unter den Tisch gekehrt. Es folgen keine Konsequenzen. Es wurde den Schülern nur das Versprechen abgenommen, Philipp die letzten Wochen am besten in Ruhe zu lassen. Ich finde das schrecklich. Ganz einfach so kann man das Leben eines anderen zerstören. Es gibt keine sichtbaren Wunden, also kann man es einfach totschweigen. Und das von einer Schule, die sich öffentlich damit brüstet, dass Mobbing nicht toleriert wird. Dass nach bekannt werden von Vorfällen, Abmahnungen bzw Suspendierungen drohen. Anscheinend nicht, wenn die Täter aus „gutem Hause“ stammen und das Opfer aus „der unteren Schicht“ kommt. Wo ist hier die Gerechtigkeit?
Und wie geht mein Sohn mit dieser Situation jetzt um?
Er ist wohl der stärkste Mensch, den ich je kennen lernen durfte. Ich bin stolz seine Mama sein zu dürfen. Ich hab ihn gefragt, was jetzt in ihm vorgeht? Wie er sich fühlt? Und er antwortete mir:
„Weißt du, Mama, eigentlich tun mir meine Mitschüler leid. Denn die haben zuhause niemanden, der ihnen zuhört oder sie beschützt. Denn die kommen in ein leeres Haus, weil die Eltern nicht da sind. Und wenn die Eltern dann da sind, haben sie keine Zeit für ihre Kinder.“
Ich war sprachlos. Vor Stolz. Nach all dem, was ihm in den letzten drei Jahren passiert ist, kann er tatsächlich für diese Menschen Mitleid empfinden.
„Nur, weil sie schlechte Menschen sind, heißt das nicht, dass ich zu ihnen ein schlechter Mensch sein muss.“
Für mich ist es schwieriger. Doch ich zeige ihm das jetzt nicht. Ich rede mit meinem Mann viel darüber. Er macht mir keinen Vorwurf, weil ich die Anzeichen nicht richtig gedeutet habe. Doch es tut mir aus tiefstem Herzen leid, dass ich es nicht gesehen habe. Ich trage diese Last mit mir herum und ich hoffe, dass mir mein Kind irgendwann verzeihen kann.
Für mich ist das alles Erdbeben, Tsunami, atomare Katastrophe…alles auf einmal. Es wird einige Zeit dauern, bis ich mich davon erhole.
(Anmerkung: Ich habe keine Rachegelüste. Wenn es für meinen Sohn in Ordnung ist, dass nichts weiter geschieht, ist es auch für mich in Ordnung. Ich bin jetzt nicht primär der Meinung, dass die Kinder aufs schlimmste bestraft gehören. Mir geht es nur um diese Ungerechtigkeit. Ungerechtigkeit, die jeden Tag passiert. Nicht nur hier. Sondern überall. Die meisten Mobbingfälle werden ja nur dann bekannt, wenn etwas schlimmes passiert. Da ist es aber vielleicht zu spät. Es muss vorher schon was geschehen. Aufklärung, zum Beispiel…)
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Babsi, die Chaosbloggerin aus dem Sumpf
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Ich muss sagen, ich war selbst in einer Situation wie dein Sohn. Inklusive Beschreibungen auf Zetteln, wie ich mir am Besten das Leben nehme sollte und so weiter.
Stütze war mir vor allem mein Sport-da kam so etwas einfach nicht vor und wurde von den Trainern aufs schärfste geahndet-inklusive Rausschmiss aus dem Verein, falls es vorkommen sollte.
In der Schule haben wir durch Beweise (Zettel sammeln etc) problemlos mit dem Direktor alles klären können. Es folgte eine schriftliche Ermahnung an die Eltern und die Schüler persönlich mit der Information, sollte auch nur noch ein Zwischenfall auftreten, hätte dies den sofortigen Schulverweis zur Folge. Das hat geholfen.
In meinem Fall war es damals Neid (eine der Klassenbesten im Vergleich zu versetzungsgefährdet).
Schön zu lesen, dass es deinem Sohn in der neuen Schule gut geht-manchmal ist das einfach der richtige Schritt!
Hallo, Sarah!
Das ist wirklich schlimm. Bei meinem Sohn lief das alles verbal ab. Da waren sie schlau genug
Ja, so ist es besser. Nachdem es keine Konsequenzen gab, würden sie munter weiter machen, bis er eines Tages… Ich will gar nicht dran denken. Das Problem jetzt ist, dass sie bestimmt ein neues Opfer haben. Schließlich passiert ihnen ja nix
Liebe Grüße Babsi
Mann, dieser Text geht einem wirklich unter die haut. Ich heul schon. du hast mich tief berührt mid diesem Text. Ich hoffe, dass es Dienem Kind und Euch allen jetzt gut geht und in der neuen Schule alles besser ist. Alles Liebe, Verena
Liebe Verena,
danke <3
Ja, es geht ihm sehr gut. Erst heute wieder hat er mir erzählt, wie toll es in der neuen Schule ist und wie stark der Zusammenhalt ist.
Das freut mich immer sehr. Schon wenn er die Einfahrt hochkommt, sehe ich ihn jeden Tag strahlen 🙂
Ich glaube, er hat das Drama gut weg gesteckt. Es geht sogar so weit, dass er sich für Schwächere stark macht. "Sowas kann ich nicht mit ansehen!" erzählt er dann immer <3
Liebe Babsi!
Es tut mir sehr Leid, dass dein Sohn so etwas erleben musste.
Umso wichtiger ist es jetzt, ihm zu helfen, ihm zu zuhören und ihn dabei zu unterstützen, ein positiveres Bild von sich selbst zu bekommen.
Wenn man negative Dinge über sich selbst immer wieder gesagt bekommt, kann es passieren, dass man diese tatsächlich als wahr annimmt.
Hierbei könnte vielleicht eine Psychotherapie helfen.
Ich weiß aus eigener Erfahrung wie verletztend Mobbing sein kann.
Ich hatte mehrere Erlebnisse bei der Arbeit und als sie thematisiert wurden, weil alles aus mir auf unpassende Art und Weise ausgebrochen war, wurde alles abgestritten und so hingedreht, als hätte ich alles nur missverstanden etc.
Liebe Grüße, Aletheia
Wow! Du bist, wie auch dein Sohn, total stark. Ich ziehe meinen Hut vor euch, wie ihr mit der Situation umgeht.
Danke schön für die netten Worte.
Virtuelles drücken und: du kannst nichts dafür, dass du es nicht gesehen hast. Ich kenne das von meiner Tochter. Die wollen nicht, dass du das merkst. Zumindest erst nicht. Mach dir keine Vorwürfe. Sei froh, dass er mit dir geredet hat und dass er jetzt so toll reagiert. Du bist eine gute Mutter. Dein Herz bricht, ich weiß. Aber du hast NICHTS falsch gemacht. Und dein Sohn wird die Sache gut überstehen, weil er so tolle Eltern hat und allen Rückhalt zu hause, den er braucht!!!!
Danke, für das virtuelle drücken. Er wollte auch nicht, dass wir was merken. Wahrscheinlich wollen uns die Kinder nicht mit „sowas“ belasten. Aber diese Last ist sehr schwer. Ich bin überaus froh, dass nicht mehr passiert ist. Es hätte auch anders ausgehen können. Danke für deine lieben Worte. Sie tun wirklich gut.
Alles liebe von hier